London – Eine Meisterleistung viktorianischer Ingenieurskunst und bekannt wie der Eiffelturm oder die Freiheitsstatue: Rund 40.000 Menschen überqueren täglich die Tower Bridge in London. Nun wird die berühmteste Klapp- und Hängebrücke der Welt 125 Jahre alt.
Am 30. Dezember 1952 steuerte der rote Doppeldeckerbus Nummer 78 auf die Mitte der Tower Bridge zu, als plötzlich beide Brückenteile hochklappten. Geistesgegenwärtig beschleunigte Busfahrer Albert Gunter. Der Bus sprang vom Nordflügel über die sich rasch vergrößernde Lücke und landete tiefer auf dem Südflügel, der sich glücklicherweise etwas langsamer öffnete.
Zwar wurden dabei einige Passagiere, Gunter selbst und der Schaffner verletzt. Doch für seine Heldentat erhielt der Busfahrer eine finanzielle Anerkennung, und seine Kollegen verpassten ihm den Spitznamen «Fallschirmjäger Gunter». Am kommenden Sonntag (30. Juni) feiert London das 125-jährige Bestehen der Tower Bridge.
Londons massiver Bevölkerungszuwachs und die ersten Entwürfe
Im 19. Jahrhundert explodierte Londons Bevölkerung von einer Million auf sechs Millionen. «Der Verkehr auf der London Bridge – etwa einen halben Kilometer flussaufwärts gelegen – kam regelmäßig zum Stillstand und führte zu stundenlangen Warteschlangen», beschreibt Dirk Bennett die damalige Situation – er ist Historiker und verantwortlich für die Ausstellungskonzeption der Tower Bridge. Statt Bankenviertel und Uferpromenade säumten damals Lagerhallen und Werften beide Themseufer.
Der Schiffsverkehr war so wichtig für die Versorgung der Metropole, dass die Ausschreibung für die neue Brücke verlangte, Schiffen Vorrang vor dem Straßenverkehr zu geben. Das Prinzip gelte bis heute, stellt Dirk Bennett klar: «Wenn ein Schiff 24 Stunden vorher um Durchfahrt bittet, muss dem stattgegeben werden.»
Schiffsmasten bis zu einer Höhe von 20 Metern sollten die neue Brücke passieren können. Entsprechend ausgefallen seien die über 50 Entwürfe gewesen, die beim öffentlichen Wettbewerb eingereicht wurden: Ein Vorschlag sah vor, den Straßenverkehr hoch zu verlegen und per Aufzug auf beiden Seiten nach oben und unten zu transportieren. Eine weitere Idee war eine Brücke, die zwischen den beiden Flussufern hin und her rollt. Auch das Design für eine Schwebefähre mit an Seilen hängenden Käfigen wurde eingereicht.
Jones und Barry durften die Brücke schließlich bauen
Schließlich wurde 1884 der Entwurf von Architekt Horace Jones und Bauingenieur John Wolfe Barry genehmigt. Sie hatten eine Klappbrücke mit zwei auf Pfeilern errichteten Brückentürmen entwickelt, wobei die beiden zentralen Tragwerkteile nach oben geklappt werden konnten, wenn ein Schiff passieren wollte.
Zwei Jahre später begann der Bau. Zwei massive Pfeiler aus über 70.000 Tonnen Beton wurden mit Hilfe von Tauchern ins Flussbett versenkt. Über 11.000 Tonnen Stahl bildeten die Struktur, die hinter Granit aus Cornwall und Braunsandstein versteckt wurde. Eine Meisterleistung: «Die Bauteile wurden in Schottland angefertigt, fast wie ein Ikea-Fertigbausatz», erklärt Dirk Bennett im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Spezialisierte Familienverbünde setzten sie vor Ort mit insgesamt zwei Millionen schweren Nieten zum Stahlgerüst zusammen. «Die Nieten wurden in Öfen erhitzt, mit der Zange herausgenommen und nach oben geschleudert, wo sie ein weiteres Mitglied des Teams auffing und ins vorgestanzte Loch hielt. Dann wurden sie von beiden Seiten mit großen Vorschlaghämmern hineingehämmert.» Einen Höllenlärm habe das gemacht.
Prestige und Vorführobjekt für Allerhand
Anfangs war die Tower Bridge schokoladenbraun; blau und weiß wurde sie erst 1982 gestrichen. Der Kronprinz und spätere britische König Edward VII. eröffnete das für damalige Zeiten hypermoderne Stahlbauwerk mit großem Pomp am 30. Juni 1894. Eine Flotte wartete auf der Themse für die erste offizielle feierliche Durchfahrt.
Aus statischen Gründen war der «viktorianische Zuckerbäckerstil» wie zeitgenössische Kritiker laut Bennett monierten, nicht notwendig. Aber die Brücke sollte nicht zu sehr im Kontrast zum benachbarten Tower of London stehen, daher sollte sie der «Zugbrücke einer Kreuzritterburg» ähneln, verteidigte sie Bauingenieur John Wolfe Barry.
Die Tower Bridge wurde in zeitgenössischen Berichten als «wonder bridge», als Wunderbrücke vermarktet und schaffte es schnell auf die Plakate der Tourismusindustrie. Außerdem eignete sie sich hervorragend für Selbstdarsteller und Draufgänger, wie den irischen Luftfahrtpionier Frank McClean, der 1912 mit einem wackeligen Wasserflugzeug zwischen den Türmen hindurchflog. Fünf Jahre später sprang der in Aachen geborene Erfinder und Entdecker Thomas Orde-Lees mit dem Prototyp eines Fallschirms von den Fußgängerstegen in den Fluss, um der Armee dessen Wirksamkeit zu beweisen – mit Erfolg.
Mit Dampf und Kohle
Anfangs versorgten drei riesige Dampfmaschinen am Südende der Brücke die Hydraulik mit dem notwendigen Wasserdruck, um die beiden Brückenteile innerhalb weniger Minuten hochklappen zu können. Der Maschinenraum roch nach dem «scharfen Geruch von Kohle und diesem leicht süßlichen Geruch von Öl und Metall», ergaben Dirk Bennetts Nachforschungen bei der Familie eines früheren Arbeiters.
Es sei nicht besonders laut gewesen, aber natürlich heiß. «Bis 1976 war die Tower Bridge praktisch eine riesige Dampfmaschine.» In dem Jahr wurde sie auf Ölhydraulik umgestellt, und die Pumpen werden seither elektrisch angetrieben.
Am 29. und 30. Juni wird das 125. Jubiläum auf der Tower Bridge mit einem prall gefülltem Programm gefeiert, unter anderem mit Darstellern in viktorianischen Kostümen.
Fotocredits: Monika Skolimowska,London Metropolitan Archives,Vickie Flores
(dpa/tmn)