Vilcabamba – So früh klopft der Tod in Vilcabamba eher selten an die Tür. Der braune Sarg mit der Leiche von Rosa Torres wird schweigend die Straße hochgetragen. Am Eingang zum Friedhof ruft ein Eisverkäufer den schwitzenden Sargträgern zu: «Helado, Helado.»
«Sie war erst 43, Gehirntumor. So jung sterben bei uns nur wenige», meint William Benítez (56), der in dem Trauerzug mitläuft. «Eigentlich ist 100 hier der Durchschnitt.» Okay, das meint er nicht ganz ernst, denn sein Vater wurde auch «nur» 84, seine Mutter 86.
Vilcabamba, in einem auf 1700 Meter gelegenen fruchtbaren Tal im Süden Ecuadors, hat weltweit Schlagzeilen gemacht wegen der hohen Dichte an uralten Menschen. Als «Tal der Hundertjährigen», als Ort der Langlebigkeit dank des besonderen Klimas – die Hauptstraße heißt «Avenida de Eterna Juventud», Straße der ewigen Jugend.
In dem 5000-Einwohner-Ort scheint aber auch der von Gabriel García Márquez wunderbar geprägte «Realismo Mágico» zu Hause zu sein, der magische Realismus. Wahrheit und Fiktion verschwimmen hier. So meint Benítez: «Der älteste Bewohner ist Miguel Carpio, er wurde 136.» Der Ort wirbt mit seinem Mythos gezielt um Touristen – mit Erfolg.
Die US-Anthropologen Richard Mazess und Sylvia Forman sind dem «Fall Carpio» schon vor 35 Jahren auf den Grund gegangen. Sie fanden heraus, dass Carpio zum Beispiel sein Alter mit 121 angab, als er erst 87 war. Und gemäß des von ihm genannten Geburtsdatums müsste seine Mutter fünf Jahre nach seiner Geburt geboren worden sein. Fazit der Forscher: Es gebe hier einen ausgeprägten Hang zur Übertreibung.
Aber ein Streifzug durch Vilcabamba zeigt zweierlei: Es gibt hier wirklich einige steinalte Menschen, mehrere Generationen leben unter einem Dach. Und der Ruf hat zu einer Ansiedlung von US-Rentnern und Hippies geführt. Das Leben pflegt man hier, das Sterben nicht so sehr. Auf dem Friedhof liegt Müll, Kreuze sind umgekippt. Auf den meisten steht nur das Todesdatum. Die älteste hier begrabene Person ist Lucila Guerrero: 107 Jahre, geboren 1906, gestorben 2013.
Wissenschaftler sind sich uneins über die Gründe der Langlebigkeit – von fett- und kalorienarmer Ernährung (Yuca, Bananen, Guayabas, Bohnen, Getreide, Mais) über wenige Menschen mit Herzproblemen bis zu einer besonderen Knochenbeschaffenheit reichen Erklärungsversuche.
Einhellige Meinung der Bewohner ist, dass das Klima des ewigen Frühlings (ganzjährig 18 bis 22 Grad), die Ernährung mit Produkten der Region und das heilende, nährstoffreiche Wasser des Rio Capamaco lebensverlängernd wirken. Aber es gibt immer weniger Hundertjährige – sagen die Bewohner unisono, aktuelle Statistiken kann die Gemeinde auf Anfrage nicht liefern. Als Grund sehen die Bewohner schlechte Einflüsse von außen – auch hier hätten hormonbehandelte Hühnchen und ungesunde Nahrung Einzug gehalten. Aber einige Uralte gibt es noch.
Zum Beispiel Timotheo Arbolera, 101. Er sitzt hoch oben am Fluss auf einer Bank vor dem Haus. Den ganzen Tag. «Ich war nie krank, habe immer auf dem Feld gearbeitet, Kaffee und Bananen gepflanzt.» Alkohol? «Nur ab und zu einen Zuckerrohrschnaps.» Wie so viele hier, liebt er zu besonderen Tagen ein gegrilltes Meerschweinchen. Und dann ist da noch der Älteste von allen. Er lebt seit jeher nur von dem, was die Natur hergibt, sehr abgelegen. Das Auto schlängelt sich durch das saftgrüne Tal, irgendwann gibt es nur noch eine Schotterpiste, dann kommen plötzlich ein paar Häuser. Auf der staubigen Straße steht José Javier Delgado Jaramillo mit seiner Frau, María Mercedes Retete.
José will gerade zu einer Dorfversammlung, es geht um Ärger mit der Wasserversorgung. «Mein Sohn fährt mich. Er muss mir helfen, ich höre nicht mehr so gut», sagt er. Wie alt er denn sei? «106.» Er kramt aus der Brusttasche seines Hemdes den Personalausweis heraus, dort steht als Geburtsdatum tatsächlich der 21. Februar 1910 eingetragen. Seine Frau hat auch schon 92 Jahre auf dem Buckel. Seit sage und schreibe 75 Jahren sind sie verheiratet. Um 5.30 Uhr steht José auf, um 19 Uhr geht er schlafen, noch immer arbeitet er täglich im Garten.
Sie sagen, sie hätten 40 Enkel, macht bei sechs Kindern fast sieben im Schnitt. «Rekordhalterin ist meine Tochter Sarah mit elf Kindern», sagt José. Seine Frau schwört, alle Namen der Enkel und Urenkel zu kennen. Viel Gemüse, Obst, nennen sie als Grund für das lange Leben. «Aber warum ich so alt werden durfte, weiß nur der liebe Gott», meint José, bevor er losmuss.
Irgendwie scheint sich der Ruf herumgesprochen zu haben. Am Markt für organische Produkte, wo auch Yogabücher und veganes Essen feilgeboten werden, sitzt Oliver Dams aus dem badischen Freiburg, seit zwei Jahren in Südamerika unterwegs. Der 31-Jährige hat mal als Gärtner gearbeitet. «Aber dann dachte ich, Geld machen, wofür?» Er schlägt sich mit Straßenmusik durch. In Vilcabamba könnte er länger bleiben. «Es ist sehr magisch hier, die Energie sehr rein und klar.» Hier gedeihe alles, man könne im Einklang mit der Natur leben. «Wie eine Oase.» Hippies seien voll akzeptiert. Er hat in einem Beutel schwarze Samen dabei. Kann man in Wasser einlegen. Oder zermörsern und rauchen. «Macht schöne Träume.»
Die Gegend ist bekannt für Heilkräuter – und den halluzinogenen San-Pedro-Kaktus. Während Hippies sich vorzugsweise im «Pura Vida» treffen, sitzt der frühere Industriekaufmann Marc aus Kentucky eine Ecke weiter im «Teraza Café». Ein Bier vor sich, um 10 Uhr morgens. Wie die anderen fünf Rentner aus den Staaten, die mit ihm da sitzen.
2007 war der 65-Jährige hier im Urlaub. «Da war klar, hier will ich hin», erzählt er. «Ich sage immer, das Wetter in Vilcabamba ist fürchterlich, das Essen schlecht, die Frauen unattraktiv – damit nicht noch mehr kommen.» Englisch ist überall zu hören. US-Rentner leben hier zu Dutzenden, mehrere Amerikaner betreiben Hostels und Läden wie das «Falafel United». War für Marc denn auch die mögliche längere Lebenserwartung ein Zuzuggrund? «Ach, das ist doch Bullshit», meint er. «Aber hier lässt es sich einfach hervorragend aushalten.»
Fotocredits: Georg Ismar,Georg Ismar,Georg Ismar
(dpa)