London/Paris – Rund 700 Passagiere waren an Bord, an diesem Morgen vor 25 Jahren. Am 14. November 1994 verließ der erste Eurostar London mit dem Ziel Paris. «Vom Bahnhof Waterloo ging es pünktlich los», erinnert sich der damalige Zugführer Bob Priston in der britischen Zeitung
«Guardian».
«In Nordfrankreich beschleunigten wir auf 300 Stundenkilometer. Wir waren uns bewusst, dass es ein historischer Moment war.» Nichts durfte schiefgehen. Nach einer dreistündigen Fahrt erreichte der Eurostar den Bahnhof Gare du Nord in Paris.
Alternative zum Flugzeug
Die bekannteste und beliebteste Strecke ist wohl Paris-London, aber längst nicht die einzige. Der Eurostar nahm nur wenige Monate nach der Eröffnung des Eurotunnels den Betrieb auf. Der rund 37 Kilometer lange Tunnel unter dem Ärmelkanal ist nicht nur der längste Unterwassertunnel der Welt, sondern auch Großbritanniens direkte Verbindung zu Europa. Für Reisende bietet er eine Alternative zum Flugzeug. Und viele Gegenden hat ein Stopp des Schnellzugs neu belebt – denn der Eurostar hält nicht nur in den Metropolen.
Damals schlich der Zug noch durch Südengland, bis er nahe Folkestone in den Eurotunnel verschwand. Erst 2007 wurde die Hochgeschwindigkeitsstrecke High Speed 1 auf britischer Seite komplett ausgebaut und die Fahrtzeit auf nun zwei Stunden und 15 Minuten von London nach Paris verringert. Das ist etwa eine Stunde weniger als noch zu Beginn. Im Jahr 2018 reisten 22 Millionen Passagiere durch den Eurotunnel; davon rund 11 Millionen mit dem Eurostar.
«Für den deutschen Markt hat der Zug ja nicht so eine große Bedeutung», sagt Tourismusexperte Torsten Kirstges. Er ist Professor für Tourismusmanagement an der Jade Hochschule in Wilhelmshaven. Das liege vor allem daran, dass es von Deutschland aus nicht besonders praktisch sei, über Frankreich nach London zu fahren. Dass der Eurostar nicht unbedingt für deutsche Reisende ausgelegt sei, zeige schon die Internetseite. Die kann man in verschiedenen Sprachen aufrufen – englisch, französisch, niederländisch. Deutsch ist nicht dabei. Die Zahlen geben ihm recht: Nur rund 240.000 Eurostar-Trips beginnen oder enden in Deutschland, wie aus einem Bericht der Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young hervorgeht.
ICE-Direktverbindungen nach London?
Einst träumte man von ICE-Verbindungen nach London – doch dazu ist es bis heute nicht gekommen. Zwar absolvierte 2010 ein ICE eine Testfahrt durch den Tunnel, doch der kommerzielle Verkehr damit wurde nie aufgenommen. Direktverbindungen nach London von Frankfurt oder Köln – kommt das irgendwann? Der Ausblick der Deutschen Bahn ist mehr als verhalten. Grundsätzlich sei das von Interesse, teilte das Unternehmen mit. Allerdings seien noch nicht alle Züge und Strecken mit einem entsprechenden Zugsicherungssystem ausgestattet, davon hänge aber eine Zulassung der ICE-Züge ab. Details zum Zeitplan könne man nicht nennen.
Doch warum den Zug nehmen, wenn man von Paris nach London auch in gut einer Stunde fliegen kann? «Der Zug ist schon allein deshalb eine große Zeitersparnis, weil man direkt in den Metropolen ankommt und nicht an einem Flughafen außerhalb», sagt Experte Kirstges.
Einchecken und Passkontrolle – so wirklich weg fällt das allerdings auch beim Eurostar nicht. Wer den Zug nimmt, muss auch zeitiger kommen – zwischen 45 und 60 Minuten vorher werden empfohlen. Der Check-in am Pariser Gare du Nord ist bekannt für lange Schlangen. Ohne Personalausweis oder Pass geht nichts – Großbritannien gehört nicht zum Schengenraum. Den langen Weg zu den Pariser Flughäfen kann man sich allerdings sparen.
Vom Flieger auf den Zug wechseln
Ein weiterer Vorteil: Der Zug ist deutlich
umweltfreundlicher als das Flugzeug. Statt eines ökologischen Fußabdrucks von 64,2 Kilogramm Kohlendioxid für den Flug von London nach Paris belastet die Zugreise die Umwelt nach Angaben von Eurostar nur mit 4,1 Kilogramm CO2 pro Person. Ähnlich sieht es bei den Strecken London-Brüssel oder London-Amsterdam aus.
Die französische Staatsbahn SNCF hatte jüngst angekündigt, dass sie eine Fusion ihrer Tochtergesellschaften Eurostar und Thalys plant. Thalys verbindet etwa Frankreich, Belgien, die Niederlande und Nordrhein-Westfalen. Durch die Kombination der Netze sollen noch mehr Menschen vom Flieger auf den Zug wechseln. Tourismus-Experte Kirstges hofft, dass – unabhängig vom Tunnel – künftig in Europa verstärkt auf den Zug gesetzt wird. «Da ist doch der Geburtstag des Eurostar auch ein Denkanstoß – gerade wenn das Fliegen auf kurzer Strecke immer mehr unter Beschuss gerät.»
Seit der ersten Fahrt des Eurostars hat sich viel getan. So wurde das Streckennetz erweitert, aber auch in puncto Design ist vieles anders. Der damalige Schaffner Tom Wolfe erinnert sich im «Guardian» noch an die ersten Uniformen: Sie wurden von Designer Pierre Balmain entworfen und waren kanariengelb. «Schrecklich!», so das harte Urteil von Wolfe. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens von Eurostar setzte der damalige Kreativdirektor Christopher Jenner auf Retro. Die neue Londoner Schalterhalle in St. Pancras kombiniert Jugendstil und viktorianische Gotik und soll an das «goldene Zeitalter des Reisens» erinnern.
Bei einem Brexit ohne Vertrag droht Chaos
Die Zukunft hält hingegen eine große Herausforderung bereit – den Brexit. Sollte Großbritannien die Europäische Union ohne Deal verlassen, rechnen die Autoren eines Regierungsberichts mit «Chaos» am Londoner Eurostar Terminal, wie die «Financial Times» berichtete. Im schlimmsten Fall müssten täglich bis zu 15.000 Passagiere anderthalb Kilometer lang Schlange stehen. Dazu käme es, wenn Frankreich britische und Nicht-EU-Reisende strengen Passkontrollen unterziehe. Möglicherweise würde auch die Zahl der Geschäftsreisen zurückgehen. Derzeit sind 60 Prozent aller Reisenden wochentags geschäftlich unterwegs.
Auf der Schiene rollen aber nicht nur Passagierzüge, sondern auch Güter- und Autozüge. Im Jahr 2018 transportierte der Autozug Le Shuttle zum Beispiel 2,7 Millionen Fahrzeuge, 1,7 Millionen Laster waren auf Lkw-Shuttles unterwegs. Seit Eröffnung des Tunnels haben fast 410 Millionen Tonnen Waren den Tunnel passiert – die meisten auf den Lkw-Shuttles. Bei einem Brexit ohne Vertrag drohen Zollkontrollen – und kilometerlange Staus.
Fotocredits: Gareth Fuller
(dpa)