Havanna – Victor Leonardo schaut aus dem Fenster des Reisebusses, der sich durch die von Palmen gesäumten Straßen der kubanischen Touristen-Hochburg Varadero schlängelt. «Kuba hat sich im letzten Jahrzehnt rapide verändert», sagt er.
Der 50-Jährige stammt aus der östlichen Provinz Granma. Er hat jahrzehntelang als Spanisch-Lehrer gearbeitet – aber es wurde immer schwieriger, mit einem monatlichen Gehalt von 25 US-Dollar (etwa 23 Euro) über die Runden zu kommen.
«Wir bekommen Essensrationen, ein kostenloses Gesundheitssystem und Bildung vom Staat. Doch jeder Monat war für mich wie ein kleiner Kampf ums Überleben», sagt er. Also entschloss Leonardo sich, in das Strandparadies Varadero zu ziehen, wo sich eine Hotelanlage an die nächste reiht – um Touristenführer zu werden. Nun verdient er ein Vielfaches seines früheren Gehalts.
Zwei Autostunden entfernt, in der belebten Hauptstadt Havanna, wimmelt es von Touristen. Sie trinken Mojitos und Daiquiris in den Hemingway-Bars «Floridita» und «La Bodeguita», machen Ausflüge in bonbonfarbenen Oldtimern oder schlendern durch die Altstadtgassen vorbei an maroden spanischen Kolonialbauten. Wer gehofft hatte, Kuba noch vor dem Massenansturm zu erleben, wird oftmals enttäuscht. «Es gibt viel mehr Touristen, als ich erwartet hatte», sagt die deutsche Urlauberin Nicole Tamer.
Kuba verzeichnete im vergangenen Jahr einen
Besucherrekord von vier Millionen Touristen – 13 Prozent mehr als 2015. Die Zahl der deutschen Urlauber stieg laut
Tourismus-Ministerium im ersten Halbjahr 2016 um 69,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Der Fremdenverkehr ist zur Lebensader der sozialistischen Karibikinsel geworden, die Branche ist der zweitwichtigste Devisenbringer für Kuba. «Tourismus ist eine Schlüsselindustrie», sagt der Wirtschaftsprofessor Ricardo Torres von der Universität Havanna. «Das Land befindet sich im Aufbruch, und vor allem Einheimische profitieren davon.»
Der Andrang wird allerdings zur Belastungsprobe. Hotelzimmer sind teuer – bis zu 250 Euro pro Nacht – und oft Monate im Voraus ausgebucht. Doch das Land mit rund elf Millionen Einwohnern rüstet sich: Bis 2030 sollen über 100 000 neue Hotelzimmer entstehen, und der internationale Flughafen in Havanna soll modernisiert werden.
Raúl Castro übernahm das Amt des Präsidenten im Jahr 2008 von seinem im vergangenen November gestorbenen Bruder Fidel. Er hat seitdem viele Beschränkungen gelockert. Obwohl der Tourismus immer noch weitgehend in staatlichen Händen ist, kommt die Öffnung auch dem Privatsektor zugute. Seitdem die sozialistische Regierung den Betrieb von privat geführten Restaurants («Paladares») und privaten Unterkünften («Casas Particulares») zugelassen hat, gehören die «Cuentapropistas» – die Selbstständigen – zu den Besserverdienenden.
Der Boom könnte aber auch die sozialen Spannungen in der offiziell einst klassenlosen Gesellschaft verschärfen. Die Gräben zwischen jenen, die im Tourismus harte Devisen verdienen, und jenen, die sich in Staatsbetrieben oder der Verwaltung mit dem Durchschnittslohn von 20 US-Dollar begnügen müssen, werden immer tiefer. Um über die Runden zu kommen, fahren Ingenieure Taxi, Lehrer arbeiten als Reiseführer.
Nicht nur Europäer tragen zu dem Ansturm bei. Nach einer langen Eiszeit nahmen die USA unter der Führung von Barack Obama im Juli 2015 wieder diplomatische Beziehungen zum ehemaligen Erzfeind auf. Dank des politischen Tauwetters kamen im vergangenen Jahr fast 285 000 US-Touristen nach Kuba – 74 Prozent mehr als 2015.
Für US-Bürger war dies zuletzt deutlich einfacher geworden. Allerdings sind Reisen wegen des Handelsembargos noch immer beschränkt. So müssen Besucher aus den USA religiöse, kulturelle oder akademische Gründe geltend machen. «Niemand hatte die Illusion, dass es über Nacht dramatische Veränderungen geben würde», sagt Torres. «Es ist immer noch ein langer Weg für unsere Beziehungen und die Transformation unseres Landes.»
Der neue US-Präsident Donald Trump hatte gedroht, die Entspannungspolitik zu beenden, falls Kuba keine weiteren politischen Zugeständnisse macht. Was er damit genau meint, ist unklar. Der künftige Außenminister Rex Tillerson kündigte an, Obamas Kuba-Politik zu überprüfen. «Niemand weiß, was Trump machen wird, doch ich glaube fest daran, dass es nicht zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen kommen wird», sagt Torres.
Während die Sonne langsam untergeht, fährt der Bus vorbei an Bildern der Revolutionshelden Ernesto «Che» Guevara und Fidel Castro und an Bauern auf Ochsenkarren, die langsam über die Felder ziehen. «Es gab positive Veränderungen unter Raúl, mehr Reise- und Meinungsfreiheit und Zugang zum Internet», sagt Leonardo. «Doch wir wollen ein besseres Leben mit mehr Geld, Medikamenten und neuen Autos.» Amerikanisiert werde das Land aber sicher nicht. «Dafür sind wir Kubaner viel zu stolz und patriotisch.»
Fotocredits: Alejandro Ernesto
(dpa)